No ART around – Schweifende Annäherungen an ein „Gastraumprojekt“

erschienen in: dilettantin produktionsbüro: No ART Around – Über die (Un)möglichkeit ein Restaurant als Kunst zu betreiben, Berlin, 2012

Es ist nicht nur Bedauern, vielmehr eine melancholische Leere, die mich in Bremen erfasste und mich seitdem nicht mehr loslässt, als nach seiner inneren Logik 2010 pünktlich das Restaurant dreijahre für immer schließen musste. Ein digitaler Count-down, von dem ich wohl wusste, den ich aber als Gast bestens versorgt verdrängen konnte, zählte die Zeit dieses praktischen Kunstprojekts des dilettantin produktionsbüros seit 2007. Und dann, wie immer guter Laune in Erwartung der Speisung, stand ich plötzlich vor verschlossenen Türen, und die Frage stellte sich, wo nun essen gehen in Bremen, sich mit Freunden und Bekannten treffen, berufliche, konspirative, alberne und fachliche Gespräche führen? Nicht, dass es in dieser Stadt keine Restaurants gäbe, aber es gab kein solches.

Was also war so einmalig und unverwechselbar an dieser Lokalität? Zunächst einmal bestand dreijahre recht besehen aus mehreren Gastronomietypen. Im Sommer ließ es sich draußen sitzen in Betrachtung des erfreulich bewegt gescheckten alternativen Lebens im Bremer Viertel, zwar leicht in einer Seitenstraßen eingerückt, aber doch mittendrin, mit Sichtweite zu Straßenbahnhaltestelle, Bank und Fahrradgeschäft und vis-a-vis eines äußerst beachtenswerten anarchistischen Buchladens. Es gab also immer was zu gucken, und der Flaneur kam zur Ruhe. Betrat der Besucher nun die Lokalität, stand er in einem großen, recht übersichtlichen Raum mit einer Bar und kleinen Tischen am Fenster. Rechts tat sich ein weiterer Raum mit einer markant langen, handgeschriebenen Weintafel auf, der eher bistromäßig eingerichtet war, organisiert für den langsamen Kaffee am Nachmittag und abends der Speise an einfachen Holztischen verpflichtet. Dahinter gab es mit Fenster zum Hof eine Art Wohnzimmer, das in seiner Enge gemütlich zu nennen war und diese Stimmung mit einem offenen Kaminfeuer überhöhte. Hier fand vornehmlich das abendliche Essen der Einzelgänger, Verliebten und Professionellen statt. Eine weitere Räumlichkeit,  die sich daran anschloss, war der festlichen großen Tafel reserviert, mit kleinen Einzeltischen an der linken Seite. Aber damit noch nicht genug: erwähnt werden muss auch die heimelige Raucherabteilung, zu der Stufen hinter eine Glasfront führten. Angeblich existierte im Keller noch ein Club, den ich aber nie gesehen habe.
Diese mit Geschmack, Verstand und einem Mix aus alten und neuen Sitz- und Tischelementen eingerichteten Räume waren also idealer Weise für die verschiedenen Bedürfnisse der Gäste eingerichtet. In ihnen ließen sich Plätze für den einsamen Genießer ebenso finden wie für das gruppendynamische Mahl, die Ausschweifung, das Tafeln oder die Dynamik der digitalen Boheme und coolen Hipster. Gekonnt wurde die Beleuchtung zwischen Kronleuchter, Wand- und Stehlampe eingesetzt, um den Stimmungswert der jeweiligen Räume entsprechend zu betonen, also zwischen schummrigen Wohnzimmer und klarem Speiseraum, verlebendigt durch das kleine Flackern weißer Kerzen. Was also dreijahreso einmalig machte, war die liebvolle Inszenierung differenzierter Stimmungen für unterschiedliche Bedürfnisse der Gäste. Damit widersprach dreijahre den Gepflogenheiten der Branche, die Gäste in ein designerisches Gesamtkonzept zu zwingen, unabhängig von deren Launen, Bedürfnissen und Absichten.
Es war also nicht erstaunlich, dass diese künstlerische Setzung eben nicht ausschließlich Künstler anzog, sondern ein äußerst gemischtes Publikum, so dass sich dreijahre in kurzer Zeit zu einem gastronomischen Highlight Bremens entwickelte, das bei längerer Dauer des Projekts bestimmt zu einer Erwähnung, ja Belobigung in einschlägigen Michelin- und Vartaführern geführt hätte. Denn es war die Küche, die vollendete, was die Atmosphäre versprach: nicht experimentell, sondern meisterlich traditionell deutsch mit Kartoffelstampf und Saucen, mit Braten und Fisch, mit feinen Vorspeisen, Suppen, Salaten und Desserts. Es wurde die Saison berücksichtigt, kein exotisches Gewürze gestreut, sondern einfach, gut, ökologisch und schmackhaft gekocht, ohne Gruß aus der Küche, Tapaswahnsinn oder flotte Frühlingsrollen aus dem Fettbad. Gelegentlich kam es bei diesem Kochen in Echtzeit natürlich zu Staus und wartenden Gästen, aber das konnte, wenn man’s nicht eilig hatte, gelassen hingenommen werden, da die Atmosphäre stimmte und für den einsamen Esser Zeitungen und Zeitschriften auf dem neusten Stand vorhanden waren.
Die Bedienung wurde auch aus der Hochschule für Künste rekrutiert, der Brutstätte dieses Projekts, und es war für mich interessant zu beobachten, dass die Studierenden aus Kunst und Design, die vormittags noch in meinen Seminaren saßen, jetzt gekonnt professionell in ihrer neuen Rolle aufgingen. Erst bediente ich sie und abends sie mich, sicherlich eine Differenz der „Gaben“, aber selbst die rebellischsten unter ihnen betüterten eben nicht nur mich, sondern alle anderen Gäste gleichermaßen in höflichster und zuvorkommenster Art und Weise. Es ließe sich jetzt leicht einwenden, dass die Studierenden diese spezielle Gastronomie lediglich nutzten, um ihr ohnehin schmales Budget aufzubessern. Doch war das Bedienen im dreijahremehr als nur ein Job. Es fand quasi ein Rollenwechsel statt, der sich an dem reibt, was wir von einer radikanten Kunst erwarten, in der „Semionauten“ unterwegs sind, die an einer „Spezifität des Mediums“ nicht sonderlich interessiert sind.[1] Umso attraktiver wird da  der eher anthropologisch-soziologische Begriff der Gabe, welcher Begabung und Geschenk vereinigt und in Kreativität sichtbar wird.[2]Lewis Hyde: „ Diese beiden Bedeutungen von Gabe [Talent, Inspiration] beziehen sich allein auf den Schaffensprozess – das Innenleben der Kunst -, doch sollten wir sie meiner Ansicht nach auf das abgeschlossene und dem Zugriff des Künstlers entzogene Werk ausdehnen: Kunst, die uns etwas bedeutet – indem sie das Herz rührt, die Seele anregt, die Sinne erfreut, uns neuen Lebensmut gibt, oder wie wir die Wirkung auch beschreiben mögen-, solche Kunst empfangen wir als Geschenk. Auch wenn wir für den Museums- oder Konzertbesuch Eintritt bezahlt haben, berührt uns durch das Kunstwerk etwas, das mit dem Preis nichts zu tun hat. Am Abend, nachdem ich mir die Bilder eines Landschaftsmalers angeschaut hatte, sah ich beim Spaziergang durch einen Pinienwald in meiner Nähe Farben und Schattierungen, die ich tags zuvor nicht wahrgenommen hatte. Die Geschenke der Künstler können mit ihrem Geist den unseren wecken. Das Werk spricht, wie Joseph Conrad schrieb, den Teil unseres Daseins an, der seinerseits ein Geschenk ist und nichts Erworbenes.“[3]
Dieser Begriff der Gabe zirkulierte in meinem Kopf, wenn ich die Bedienung bei ihrer unauffälligen Arbeit sah, bei einer Performance von Künstlerinnen und Künstlern, in der zwar nicht das Ego im Vordergrund stand – was ja Performance oft so heikel macht -, aber doch eine Mimese, eine Theatralisierung von Nachahmung, die so subtil perfekt war, dass einerseits von künstlerischem Werk, andererseits aber auch vom erfüllten Handwerk gesprochen werden muss.[4]Auch wenn die Worte von Lewis Hyde etwas stark emphatisch und hehr klingen, so machen sie doch deutlich, dass es in der Kunst, auch in der radikanten, an erster Stelle um Wirkmöglichkeiten geht, was heute allerdings angesichts einer gewissen Selbstreferenzialität zeitgenössischer Kunstproduktion gern vergessen wird. Aber dennoch ist seit Marcel Duchamp, John Cage oder Fluxus zumindest klar, dass diese Wirkmöglichkeit nicht allein im Kunstsystem, in den Museen oder Galerien zu suchen ist, sondern sich auf den Alltag auszudehnen vermag. Die Gabe wird uns also nicht nur – wie es traditionalistisch Lewis Hyde noch vermeldet – im Kunstraum geschenkt, sondern eben auch im weiteren Sinne immer dann, wenn Künstler und Kunstwerke im Leben von Jedermann agieren, ja, wir müssen konstatieren, dass die Gabe umso mehr wirkt, je weiter sie sich vom angestammten Kunstraum entfernt. Erst dann können wir ihren Wert ermessen, auch wenn wir 30,-€ für Speise und Getränk berappen müssen.
Ja, dreijahre war insgesamt eine Gabe, die umso nachdrücklicher wirkte, da in dem engen Zeitfenster des „Gastraumprojekts“ sicherlich kein Reichtum angehäuft werden konnte. Und dreijahrewar gerade auch deshalb umso mehr eine Gabe, weil der Gast von Kunst im eigentlich Sinn recht wenig mitbekam, sondern weil die Kunst eben darin bestand, die Kunst zum Verschwinden zu bringen. Produziert wurde stattdessen ein Atmosphäre, das Geschenk eines Betriebs zum alleinigen Zwecke des Wohlergehens anderer: kein Künstlerlokal also, kein Galeriecafé, keine Eat Art, kein Kunstzwang, sondern einfach nur die pure Gabe. Selbst Al’s Cafe, das Ende der 1960er Jahre vom Konzeptkünstler Allen Ruppersberg in Los Angeles betrieben wurde, hatte noch ein ungenießbares „Assemblage-Menü“ aus künstlerischen Objekten zum Preis einer Mahlzeit im Angebot, wurde aber von seinen Benutzer hauptsächlich der Getränke wegen frequentiert. Es avancierte zum Künstlertreffpunkt (John Baldessari, Wiilam Wegman, Ed Rusha, Allan Kaprow, Jack Goldstein u.a.). „Von anderen Künstlerlokalen unterschied sich Al’s Cafe dadurch, dass es, abgesehen von den Motto-Menüs und Ruppersbergs anderen Kreationen, keinerlei sonstigen künstlerischen Programme dort gab: ‚No ideas of ART around’ wie Ruppersberg es ausdrückt. Für ihn war diese auf wenige Jahre befristete Zeit als Restaurantbesitzer ein künstlerisches Projekt und deshalb ein wesentlicher Moment seines Lebens wie auch seiner Kunst – eine Zeit des miteinander Redens und Nachdenkens über die Welt und die Kunst, bei einem Bier oder Kaffee. So sahen es auch die Gäste, und das machte den Erfolg aus.“[5]
Ähnliche Erfahrungen wie Ruppersberg dürfte auch das dilettantin produktionsbüro gemacht haben, auch wenn es im laufenden Betrieb eher um die „Welt“ als um die „Kunst“ ging. Das jetzt radikale und augenfällige Fehlen jener Kunst im dreijahre, die ja eigentlich das Projekt, bei dem sicherlich auch einige Gäste von Al’s Cafe konzeptuell Pate gestanden haben, initiierte, und damit das Fehlen jenes Künstler-Egos, das für seine Gabe Ruhm und Ehre zurückgeschenkt haben will, treibt selbst das Radikante an seine Grenze. Stattdessen wird etwas sichtbar, das als Stimmungsraum, als atmosphärische Verdichtung bezeichnet werden kann, als eine Wirkmöglichkeit der Kunst, die verborgen bleiben will, weil sie im Dienst einer allgemeinen Verbesserung menschlichen Lebens steht. Die Kunst zieht sich auf den „Modus der Gabe“ zurück und verbleibt dort im Anonymen: eine Art der Kunstproduktion, welche einige der vornehmsten Künstler von Renaissance und Barock ausübten, um etwa Feste zu gestalten, Umzüge mit Ideen zu bereichern und das artifizielle Leben des „Hofmanns“ in geglückte Momente zu überführen.[6]Natürlich sind von den diesbezüglichen ephemeren Werken etwa von Leonardo, Parmigianino oder Bernini nur noch Skizzen oder Berichte vorhanden.[7]Dennoch ging es auch bei diesen Künstlern um atmosphärische Verdichtungen, die allerdings eher in Richtung Sensation und Überhöhung zu sehen ist. Heute würden wir das als Eventkultur bezeichnen.
Wenn dennoch dieser kleine Rückblick erlaubt ist, dann, um darauf hinzuweisen, dass der frühneuzeitliche Künstler eben schon radikant umtriebig war, wenn auch als höfischer und klerikaler Auftragskünstler. Es lässt sich somit schlussfolgern, dass es seit jeher eine wesentliche Aufgabe der Kunst war, Stimmungen zu erzeugen und auf sie einzuwirken. Unterbrochen wurde diese Art der Kunstproduktion allerdings vehement mit der Verbreitung musealer Einrichtungen, die das Ephemere der Kunst gleichsam austrieb und seitdem auf Ewigkeitswerte setzt, ein Prozedere, das die Avantgarden des 20. Jahrhunderts – oft leider erfolglos – mit anarchischer Kraft rückgängig machen wollten. Die Kunst in den Alltag zu integrieren, wie es die Dadaisten, Situationisten, Fluxisten oder Konzeptkünstler in Angriff nahmen, konnte aber nur gelingen, wenn dieser lähmende Raum der Umgebung sich in einen Stimmungsraum verwandeln ließe, wenn die Kunst sich so organisiert, dass ihre Sichtbarkeit dem nun bürgerlichen Publikum im Wesentlichen entzogen wird, ohne sich allerdings im Unsichtbaren zu verlieren.
Das ist jetzt alles natürlich äußerst verkürzt dargestellt und gehört gehörig differenziert. Für unsere Zeit hat Anne Cauquelin diese Bewegung auf den Punkt gebracht. Sie spricht von den „neuen Parolen der künstlerischen Tätigkeit  – die den eingeschlossenen, begrenzten Körper des Werkes ausschließen, um den Raum zu fördern, den es bewohnt, seine Umgebung.“[8]Wenn aber das künstlerische Werk in der präzisen Organisation von alltagstauglichen Kommunikationsorten besteht, muss der Atmosphäre größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt werden. Sie muss stimmen, auf den Punkt gebracht werden, wie wir es in malerischen, filmischen oder skulpturalen Kategorien von einem Kunstwerk an der Wand oder im Projektionsraum auch erwarten sollten. Aber es gilt noch eine weitere Unterscheidung zu treffen. Das dreijahre war kein Ready made im Sinne Duchamps und in Erweiterung im Sinne der Konzeptkünstler Terry Atkinson und Michael Baldwin, die innerhalb ihrer „Declaration Series“ (1967), die englische Stadt Oxfordshire zum „Kunstambiente“ erklärten,[9]keine Theatralisierung im Sinne George Brechts, der mittels seiner Events Dinge im Alltag neu bewertete und in andere Zusammenhänge rückte,[10]und kein Eingriff im Sinne Michael Ashers, der bestimmte Dinge aus der Umgebung entfernte oder in sie neue einführte.[11]Alle diese Künstler können zwar neben den schon genannten aus Al’s Cafe zum Kronzeugen für das „Gastraumprojekt“ dreijahreaufgerufen werden, weil auch sie auf die Umgebung atmosphärisch einwirken und an der Auflösung des Werkbegriffs arbeiten. Das entscheidend Neue an der Bremer Situation ist allerdings eben die Konstruktion, die Initiierung des Ortes und die konkrete, liebevolle Auseinandersetzung mit dem, was Gastronomie auszeichnet, ohne in postmoderner Ironie die Altmeister der Konzeptkunst zu zitieren.
In der Kunst geht es um das Denken. Sie ist / sollte sein ein intellektueller Prozess, der sich in diesem Fall präzise an dem „Seinsereignis“ (Michail Bachtin) von Gastronomie abarbeitet,[12]um einer immer noch gültigen Forderung dieses Metiers nachzukommen: „Bequeme Sitzmöbel, Tische, an denen man nicht die Knie gefährdet, eine Raumgestaltung, die Fürsichsein und Geselligkeit gestattet…“[13]Und diese neben dem guten Essen und dem guten Trinken zu erfüllen, ist in Bremen das Ziel und schließlich das Hauptereignis des Künstlerischen, vermittelt durch die Inauguration von Atmosphäre als das Verbindende zwischen Kunst- und Alltagshandlung.[14]Damit bekommt der Ort jenes Poetische, das auch in den Werken der genannten Künstler immer anklingt und trotz Diskursanalysen nie richtig ausgelöscht werden kann. Es ist das Poetische der einfachen Handlung und des Handlungs- und Denkspielraums, den gute Kunst eröffnet, gerade dann, wenn kein „Meisterwerk“ für den Kunstbetrieb intendiert ist, sondern das „echt“ Künstlerische sich zugunsten der Atmosphäre und des „Seinsereignisses“ zurückzieht. Dieses Poetische artikuliert sich in einem schönen dreistrophigen Willkommenstext an einer Tafel, mit beweglichen Buchstaben sorgfältig gesetzt:
DREI IST DER RAHMEN / FUER RAUM / UND DIE ZEIT
DREI GAENGE / WIE STROPHEN DER CHOR / UNSER LIED
DREI GABELN GLUECK / SCHIFFE VOLL KAFFEE / DREI FUER DIE SINNE
So sitze ich denn nach getaner Arbeit schon früh um 18 Uhr in dieser poetischen Kunst, die so einfach und präzise ist wie ein Gedicht von William Carlos Williams,[15]bestelle mein Wasser und das Tagesgericht, lese den Weserkurier, der schnell erledigt ist, und die Feuilletons der anderen Tageszeitungen, unterbrochen von einem delikat frugalen Mahl, wechsele einige Worte mit der Bedienung und lasse meine Blicke schweifen in der noch nicht überfüllten Lokalität, hin zum Piano in der Ecke mit einer gerahmten alten Porträtfotografie einer mir unbekannten Person. Alles ganz selbstverständlich. Zwischendurch nehme ich dezente Musik aus den Lautsprechern wahr, eine Musik des New Folk, Jazz, Singer/Songwriting, Disco- und House-Klassiker, also eine spezifische Musik – nicht zu vergleichen mit dem üblichen Gastrogedudel -, die in der Auswahl und Abfolge der Stücke die Zeit verlängert oder verkürzt, je nachdem ob ich warte, esse, schaue, lese oder mich unterhalte. Es ist eine Musik, der man zuhören kann, aber nicht muss, die immer interessant ist und das Lärmende vermeidet, ohne langweilig oder depressiv zu werden. Diese kluge Musikselektion macht nochmals deutlich, dass es hier um den idealen Gastraum geht, der in seiner atmosphärischen Verdichtung dem Gast als zentrale Figur den möglichst größten Freiraum eröffnet, als Person anwesend zu sein und umsorgt zu werden. Gerade weil hier nichts dem Zufall überlassen wurde, sondern alles bedacht war, weil meinen Bedürfnissen als Gast kein Widerstand durch Nachlässigkeit, Soundgedröhn oder Überdesign entgegengesetzt wurde, weil ich einfach so meine Speisen und Getränke genießen, für mich und mit anderen sein konnte, ist die Gabe dreijahreein glücklicher Ort der Kunst, den ich vermisse.
Professor für Kunstwissenschaft an der Hochschule für Künste Bremen, zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunstgeschichte und zur Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst in wissenschaftlichen Publikationen und Ausstellungskatalogen, Kurator von Ausstellungen u.a. zu Komik und Kunst (2009), zum 50jährigen Jubiläum der documenta in Kassel (2005), zu Tableaux vivants (2002), Barock und zeitgenössischen Kunst (2001), Samuel Beckett und Bruce Nauman (2000), Kriminalität und Kunst (1999), Künstlerbüchern (1994), Künstlerschallplatten (1989) und visueller Poesie (1987). Lebt in Bremen und Berlin.
(erschienen in: dilettantin produktionsbüro: No ART Around – Über die (Un)möglichkeit ein Restaurant als Kunst zu betreiben, Berlin, 2012)

[1] Der Radikant erweitert zur Zeit den ebenfalls aus der Wurzelsprache stammenden Begriff des „Rhizoms“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari, vgl. Nicolas Bourriaud: Radikant. Berlin 2009, insb. S. 53 – 57.
[2] Vgl. zur Diskussion um die Gabe nach Marcel Mauss u.a. den Symposiumsband von Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffman (Hg.): Im Modus der Gabe. Theater, Kunst, Performance in der Gegenwart. Bielefeld 2011; vgl. auch Ursula Panhans-Bühler: Gegeben sei: die Gabe. Duchamps Flaschentrockner in der vierten Dimension. Hamburg 2009.
[3] Lewis Hyde: Die Gabe. Wie Kreativität die Welt bereichert. Frankfurt am Main 2008, S. 14 f.
[4] Vgl. Mehdi Belhaj Kacem: Inästhetik und Mimesis. Berlin 2001; Mimesen. (Themenheft) ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Nr. 2, 2011.
[5] Ulrike Groos: „’Optimismus bei Tisch’ – Zu einigen ausgewählten Künstlerlokalen“. In: Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst. (Ausstellungskatalog) Kunsthalle Düsseldorf, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2009, S. 56 – 75, hier S. 64 f.
[6] Vgl. Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann (1528). München 1986.
[7] Dementsprechend dürftig ist die Forschungslage zu dieser ephemeren Kunst der frühen Neuzeit. Das meiste Material findet sich in zeitgenössischen Texten oder den Viten Vasaris. Vgl. aber u.a. Philine Helas: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur der Renaissance. Berlin 1999; Charles Avery: Bernini. München 1998.
[8] Anne Cauquelin: Verkehr mit den Unkörperlichen. Berlin 2007, S. 129.
[9] Vgl. Art & Language: „Einleitung“. In: Gerd de Vries (Hg.): Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965. Köln 1974, S. 29 – 49, hier S. 45 f.
[10] Vgl. George Brecht: Water Yam (1963). Brüssel, Hamburg 1986; Gabriele Knapstein: George Brecht: Events. Berlin 1999.
[11] Vgl. Benjamin H.D. Buchloh (Hg.): Michael Asher. Writings 1973 -1983 on Works 1969 – 1979. Halifax 1983.
[12] Vgl. Michail M. Bachtin: Zur Philosophie der Handlung. Berlin 2011.
[13] Ernst Pauly (Hg.): 20 Jahre Café des Westens. Erinnerungen an den Kurfürstendamm. Berlin 1913/14, Reprint Hannover 1988, S. 60 f.
[14] Vgl. u.a. Michael Glasmeier: „Atmosphäre machen“. In: Ders.: Extreme 1-8. Vorträge zur Kunst. Köln 2001, S. 133 – 157.
[15] Vgl. William Carlos Williams: Gedichte. Hg. v. Joachim Sartorius. München, Wien 1998.