Anneli K. oder Selbst die Zeit verliert ihre Macht, wenn die Erinnerung die Vergangenheit erlöst. Zur Sache kommen

erschienen in: dilettantin produktionsbüro: No ART Around – Über die (Un)möglichkeit ein Restaurant als Kunst zu betreiben, Berlin, 2012

Von Rolf Thiele

Als es noch genug Zeit gab, etwas formuliert war, gab ich auf Anfrage an, die Arbeit sei fast fertig. Eine stets wiederkehrende Erfahrung, eine Art von Déjà-vu, auf die Zukunft gerichtet, was ja ganz offensichtlich dem Bereich des Absurden angehört. Vorher, als noch viel Zeit war, habe ich diese altern lassen. Zu früh und dann zu spät – niemals rechtzeitig. Es war dieses damit verbundene Unbehagen, ein Gefühl der Fremdheit gegenüber der übernommenen Aufgabe und bezeichnet eine Distanzierung von dieser. Aber die übernommene Aufgabe existiert, sie ist wirklich, die Dinge ereignen sich eben in der wirklichen Zeit – aber die individuelle Zeit, die den produktiven Mangel hervorbringt, stimmt nicht mit der ablaufenden Zeit überein. Man ist zu früh oder zu spät dran.

Entfremdung greift Raum, bildet eine Möglichkeit, etwas von sich selbst Losgelöstes zu äußern. Erst in diesem Raum konnte ich beginnen zu verstehen, was ich vorhatte zu tun. Zu spät bedeutet, so Antonio Tabucchi, die Sehnsucht nach dem, was wir nie wieder sein können, und nach dem, was wir hätten sein können, aber nie gewesen sind. Das produktive Moment, ausgelöst durch Mangel, ist der negative Augenblick in der ästhetischen Erfahrung. Vieles, was wir hätten tun können, wurde aufgeschoben – manchmal ein bis ins Alter verschobenes Jugendwerk.

Kunst agiert in Zwischenräumen, sie ist voraus oder immer zu spät. Eine auf den ersten Blick paradox wirkende Erkenntnis, denn die Voraussicht setzt etwas Zukünftiges voraus, während Wissen sich auf bereits Bekanntes, also auf die Vergangenheit bezieht. Künstler als Menschen, die nicht alles wissen was sie wissen. Die Grenzen sind fließend und waren es immer, Manches und Vieles dient als Rahmen für künstlerische Entwicklung, philosophische Abhandlungen, psychologische Erörterungen, gelegentlich für soziale Kritik. Zeitfragen sind das Bedrängende dabei. Das Nicht-mehr gegen das Noch-nicht. Ein sich stets wiederholendes Dilemma in der ästhetischen Erfahrung. Alles Ästhetische kommt aus der Vergangenheit, war schon da, ich kann es wahrnehmen, weiß es aber noch nicht. Ein für die notwendige Interpretation sich öffnender Raum. Man weiß jedoch, dass man dies oder das tun kann – denn man tut es ja; man weiß, dass man dieses oder jenes nicht versteht oder nicht in der Lage ist, es zu tun. Also worum geht es? Um das wirklich künstlerische Leben? Das schönste daran ist wohl, dass es keine Antwort gibt; auch keine Zeugen.
Die ästhetische Erfahrung als jener Moment, wo das Seelengefühl auf die Materialbetrachtung trifft, sich beide begegnen und sich verwandelnd, das eine in das jeweils andere, die Plätze tauschen. So etwas kann außerhalb von einem selbst unmöglich für einen anderen präsent sein. Die eigenen Handlungen schaffen eine Dinglichkeit, mit der man nicht nur nicht gerechnet hat, sondern die beinahe identisch wird mit dem, was sich durch Empfindungen herausgebildet und in Handlungen geäußert hat. Experimenten dieser Art haftet stets etwas Geheimnisvolles an. Verbindungen. Sogar Wortverbindungen bekommen etwas Dingliches. Eine Art mystische Resonanz ereignet sich. Die Erfahrung erlebt eine Realität, die sich ganz jenseits der Rationalität aufhält. Solche Arbeit ist Geduldsarbeit, meist ausgeführt von einem Ungeduldigen. Eine Überforderung. Aber es gibt keinen anderen Weg zu dem Kick, zu dem Funken, der alles belebt.
Natürlich ist es hart, mit dem Gefühl zu leben, dass das keiner so recht versteht. Man fühlt sich fremd. Dennoch möchte man es nicht missen, dieses Aufflackern von Kraft und Energie, die bewirkt, dass man in einer bestimmten Art sein Leben führen kann. Es hängt eben davon ab, wie man lebt, wie man arbeitet und wie man liebt. Anstatt den Leuten nachzulaufen, ist es besser sie zu sich und seiner Arbeit kommen zu lassen. Dort lassen sie sich besser betrachten als man es woanders jemals zu tun imstande wäre. Der Künstler, die Künstlerin als Betrachter? Gegenüber den Konventionen und Regeln des Kunstbetriebs, die es ja gibt, ein fundamentaler Rollentausch. In unserem Fall fungiert die Künstlerin als einladende Gastgeberin, um dann aus der räumlich physikalischen Nähe ihre Betrachtung einübend vornehmen zu können. Die auf Betrachtung und Kunsterlebnis eingestellten Betrachter werden zu Betrachteten, die, sollten sie es bemerken oder spüren, ärgerlich werden, sich ratlos fühlen und meist ablehnend reagieren angesichts dieser skandalträchtigen Überschreitung. Und das, obwohl – oder gerade weil – es hier Schmackhaftes zu Essen und zu Trinken gibt. Ein Gast ist gern gesehen, weil man weiß, er wird bald wieder gehen. Der Name des Projekts, von dem immer erwartet wird, dass es einen Anfang und ein Ende hat, fungiert als Zeichen: dreijahre. Die dadurch angekündigte, erwartete und gewohntermaßen in Betrachtung zu genießende Kunst ist mit ihrem Kunstwerk, durch dieses ausgelöst, im Alltag verschwunden. Da Kunst keine Geschmacksache ist, zumindest nicht sein sollte, und auch die eigene bloße Meinung stets zu schwach wäre, muss nach Erklärungen gesucht werden. Der Körper genießt, der Geist bleibt leer, vorderhand. Wo ist die Kunst?
Denn überall dort wo eigentlich die Sinne gefordert werden, wo die zuhandenen Teller, Bestecke und Gläser als Alltagserfahrung zum Einsatz kommen, tritt, gegenüber dem körperlich vermittelten Alltagsgenuß der Speisen und Getränke, um der eigenen Kunsterwartung zu genügen, messerscharfe Intelligenz auf den Plan, das Einfühlungsvermögen dämmert vor sich hin. Man will verstehen, wie mit der Behauptung Kunst und der sich damit ankündigenden verkörperten ästhetischen Erfahrung umzugehen sei. Etwas soll jetzt Kunst sein, und das nicht weil es so aussieht, sondern weil es so angekündigt und genannt wird. Um diese erste Reaktion, angefüllt mit Zweifel und Verdacht, ändern zu können, diese Kluft, diesen Riss spürbar zu machen, um (ihn?) dann später überbrücken zu können, braucht es diesen durch die Katastrophe des Nichtverstehens erzeugten Mangel. Solche Sinnferne, wie sie in der ästhetischen Negativität zum Ausdruck kommt, ist ja keine bloße Sinnlosigkeit, sondern eher Nichterklärbarkeit, Nichtübersetzbarkeit. Also gibt es vorerst nichts zu verstehen, aber viel zu erleben, in der Kunst. Einer Kunst, die sich hier in der Sichtbarkeit ihrer Werke, an deren Oberfläche als Nichtkunst zeigt. Das Verschwinden der Bedeutsamkeit der Dinge lässt auf diesem Umweg das wesenhaft Unbedingte der Kunst umso deutlicher hervortreten. Man erlebt ein System, das sich, indem es sich durch das Verschwinden seiner Zeichen in sein Gegenteil auflöst dennoch nicht verliert. Das Bezeichnete tritt auf negative Weise an die Stelle der eigenen Zeichen, braucht diese nur als Nein. Nichtkunst als Kunst.
Trennereignisse
Wandlungen
Was erleben wir eigentlich wenn wir mit dem Zwischenraum, der sich aus der Umkehrung ins Gegenteilige machtvoll öffnet, konfrontiert werden? Bekanntlich ist Zeitsensibilität, zusammen mit Reflexivität, das Hauptmerkmal der Moderne. Daher fragen wir immer, in welcher Reihenfolge Dinge gedacht wurden – und wie sie jetzt, angesichts dieser vollzogenen Umkehr, artikuliert werden. Je nach Kontext nennen wir diese Ereignisse Brüche, Sprünge, Transformationen oder Katastrophen. An der Spitze der aktuellen Reihe steht jetzt jedoch die Verneinung des Erwarteten auf ganzer Linie. Wir können zwar erfassen, dass ein Ding, auch verstanden als Ereignis, in der Kunst wenig zu tun hat mit demselben Ding, wenn es als Träger eines Lebensinhalts verwendet wird. Denn die ästhetische Reduktion, so haben wir aus der kognitiven Moderne gelernt, folgt eigenen Regeln –  in der Kunst müssen sich Zeichen ausschließlich mit anderen Zeichen arrangieren, nicht mit den Dingen und den Lebenstatsachen. Geschieht dies aber dennoch, indem die dingliche Ebene im Alltag verbleibt und somit aus der Kunst austrat oder gar nicht erst eintrat, erleben wir die Katastrophe des Nichtverstehens.
Ein solcher Zugriff der Künstlerin, auf den Verzicht der Materialebenen zu setzen und diese ganz dem Verschwinden preiszugeben, zwingt uns, ursprünglich auf das Betrachten eingestellt, produktiv die Seite des Unbedingten, die Seite der Kunst aktiv zu öffnen. Und die Künstlerin schaut zu, hat vollständig auf die Seite des Betrachters gewechselt, getarnt als jemand, der lediglich dem Alltag verpflichtet zu sein scheint. Diesem Verdacht ist sie ausgesetzt, dieses Risiko muss sie eingehen. Denn bekanntlich gibt es, im Umgang mit Kunst, nicht nur dort, eine Neigung, fast einen kulturell erworbenen Charakterzug, zur Kritik, zum Betrachten und Analysieren geäußerter Meinungen mit dem Ziel ihrer Veränderung. Wählt man ein Medium für seine Äußerungen ist dessen Einsetzen stets mit einem Zwang zur Beschränkung und Formalisierung verbunden. Jede Äußerung ist Festlegung, also Einschränkung zwischen dem, was man mitteilen möchte, und dem, was man mitteilen kann. Alles ist mit Entscheidung verbunden. Alle Äußerungen sind mit einer daraus entspringenden Seltsamkeit behaftet. Es kommt auf jede einzelne Äußerung an, wohl auch auf den, der sie tut. Das Betrachten ist längst zur Geschmackssache geworden, jeder hat seine Meinung, und das zu recht. Die Erfahrung, hervorgegangen aus den alltäglichen Tatsachen, lehrt, dass das Leben ökonomisch strukturiert ist. Eine Art von Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Sich in die tiefe Bodenlosigkeit der Kunst einfach fallen zu lassen, ist eine Bereitschaft, die man nur schwer auf solche Weise lernen kann.
Mit dem Wechsel von der angekündigten Kunst in Nichtkunst, also, weil versprochen, Nichtkunst als Kunst, und der Verwandlung des Betrachters zum Betrachteten und der Künstlerin ohne eigentliches Kunstwerk zur Betrachterin, könnte die Aufforderung der Künstlerin, ausgelöst durch diese Gleichsetzung, verlängert ins Allgemeine, lauten: Das Leben, die Kunst, die Welt sollte man erotisch befahren. Was ja bedeutet: bereit sein für das Unvorhersehbare. Die Zukunft ist mit uns, wir können sie nicht sehen. Dabei wachsam bleiben im Hinblick auf Abgründe, die sich durch die Bodenlosigkeit ständig auftun. Die Bodenschwere des Realen mit der Bodenlosigkeit des Unsichtbaren versöhnen? gleichsetzen? zumindest verbinden? Der Abgrund ist Chaos. Das Chaos lauert am dunklen Boden des Abgrunds. Es sind wohl die Gesichter des Eros; hinab in die verführerische Dunkelheit. Der Weg ist nie gerade. Die zwei Gesichter bedeuten, sich umzudrehen und zu sprechen, eine Regel der Rhetorik oder die Wachsamkeit der Ästhetik. Wirbeln und Abschwenken = Turbulenzen. Es dreht und wendet sich. Nach Sigmund Freud ist Turbulenz der Mechanismus des Eros.
Denn wo keine Bewegung mehr ist, keine Aktivität mehr herrscht, bereitet sich die Erfüllung des Erwarteten und Gewünschten auf den Tod vor. Bei Übererfüllung nennen wir ihn Hitzetod oder Kitsch. Und es ist doch kein Geheimnis, dass auch Künstlerinnen und Künstler häufig genug, bewusst oder unbewusst, Beihilfe zum Sitzen können leisten und in Folge des sitzenden Kunstbezugs sich selbst und ihre Werke, zum eigenen Leidwesen, der Geschmacksache der im Zuge der Moderne, darin die Befreiung der Künstler vom Betrachter, sich nunmehr einem vollständig unabhängig gewordenen Betrachter ausgesetzt sehen = Finde ich gut, finde ich nicht gut usw.
Das ist die List der Künstlerin, im Angesicht dieser, zumindest die Künstler zutiefst verstörend machenden Haltung, einen Rollentausch hervorzurufen und dadurch den Rückzug auf die jeweils voneinander getrennte Rolle zu verhindern. Eine solche neue Gleichgültigkeit, neu, weil bis dahin bekanntlich nur den Künstlern vorbehalten, legt eingehendere Sicht darauf nahe.
Der Betrachter muss nun machen, aktiv werden. Was man verstehen will, muss man machen. Sich das imaginieren zu können heißt auch, sich die Fallhöhe vorzustellen. Die Erkenntnis des Falls verbindet sich mit einer Hoffnung: sich diesen Aussichten zu stellen, sich darauf einzulassen, lässt sich als Akt intellektuellen Mutes verstehen, was wiederum Mut macht. Sich einerseits in die unpersönliche historische Reihe zu stellen und andererseits diese Stellung aus persönlichen Gründen zu verlassen. Zwei entgegengesetzte Kräfte. Beide muss man angehen. Künstler haben sich zu solchem Angehen immer schon bekannt. Seit der Moderne spricht man davon als Inspiration. Liebe ist das menschliche Leitbild für beide Kräfte. Die Kunst ist nicht das Leben. Das Leben ist nicht die Kunst. Nur die Liebe zu beiden kann es zu Einem machen. Transzendenz; das stets voneinander Getrennte gibt den Blick auf sein Anderes frei, lässt durchscheinen. Das längst Vergangene steigt im Kunstereignis ins Hier und Jetzt empor. Die Kunst bildet dann den Raum des Ursprungs (Mythos), in dem die Zeit rückwärts gelaufen war und dabei das Netz von Fehlern und Verfehlungen entknotet hatte. Sie erweitert das Leben und erklärt es in gewisser Weise, indem sie uns auf eigentümliche Art zu uns selbst ein Fremder werden lässt. Der Mensch hat, um seinen Konflikten zu entfliehen, die Kunst und deren viele Formen erdacht. Begehren, Wille und zielgerichtetes Denken sind deren Grundlagen, und das führt zu Konflikt und Hader. Dieses bewusste und überlegte Bemühen bleibt immer innerhalb der Grenzen der Konventionen, und darin liegt keine Freiheit. Jede Anstrengung Kunst machen zu wollen macht Kunst unmöglich. Und müssen es immer nur Künstler sein, die Kunst machen können? Erst das Ende solchen Denkens und dieser Art Bemühungen eröffnet uns eine andere Dimension, die in gewisser Weise jenseits von Zeit liegt. Es geschieht jetzt, was uns vorher vollkommen unmöglich erschien, die Künstlerin tritt als Betrachter ohne Werk auf, gewissermaßen als Nichtkünstler, und der Betrachter verwandelt sich zum Betrachteten, gewissermaßen als Künstler, aber ebenfalls ohne Werk und dadurch mit sofortiger Tendenz zum Wiederverschwinden, kaum entstanden und gemerkt, veranlasst. Wir durchqueren die Passage des Passierens und kommen anders heraus als wir hineingegangen sind. Die ästhetische Erfahrung verwandelt uns beinahe unmerklich in diesem Prozess. Wir sind uns fremd geworden, aber können uns erinnern, der und der gewesen zu sein, können uns neu erfinden, und zu einem anderen wandeln. Das Leben als Fremder. Wo liegt der Grund zu solchem Pathos?
Sublime Auswanderung
Ein Ruhighalten auf schwankendem Grund
Die List, eine Distanzierungstechnik anzuwenden, mit deren Hilfe wir uns in den besonderen Raum der Kunst begeben haben und mittels umgekehrter aber durchaus vergleichbarer Bewegung uns wieder heraus begeben haben, kann nur auf dem Umweg über das Nutzlose zum Unmöglichen führen. Solche Wanderungsbewegungen wie zum Beispiel die, vom Wirklichen ins Mögliche zu gelangen, sind durchaus bekannt, und das nicht erst seit der Romantik. Sie reichen zurück bis an den Ursprung unserer Kultur, unseres Denken. Platon lässt im Phaidon einen Sokrates auftreten, der mit staunenerregender Einseitigkeit einen Begriff von Erkenntnis äußert, in welchem Erkennen ohne Entkörperung undenkbar erscheint. „Und das kann doch wohl der am reinsten tun, der am meisten nur mit dem Denken an jedes Ding herantritt und dabei weder die Augen zu Hilfe nimmt noch irgendein anderes Sinnesorgan beim vernünftigen Überlegen beizieht, sondern einzig und allein mit dem reinen Nachdenken ein jedes Ding ganz in seiner Wesensart erfassen will, möglichst ohne die Augen und ohne die Ohren, sondern ganz ohne Leib, weil der Leib die Seele verwirrt und sie die wahre Erkenntnis nicht erlangen lässt, solange er mit ihr Gemeinschaft hat…“
Das lässt sich so verstehen, als ob die sogenannte sinnliche Anschauung außer Störungen, Ablenkungen und Verzerrungen nichts beizutragen hätte. Warum Platon seinen Lehrer, dieses von ihm gezeichnete überlieferte Bild des Weisen, im Athener Gefängnis Stunden vor dessen Hinrichtung im Angesicht des Todes dergleichen sagen lässt, bleibt unklar, denn ansonsten berichtet er von einem Sokrates, dessen Charakterzug eher dem eines Ethikers zuzuschreiben ist, der mit seinen Mitbürgern – die Akademie mit ihrem Diskursgeschehen wurde erst später von Platon gegründet – zeitlebens Fragen nach dem richtigen Leben verhandelte. Aber all das beschreibt die Geschichte des Denkens vor der Erfindung der Kunstwelt und in deren Folge dem Auftreten der Künstler.
Die Künstlerin, als Vorgriff hier im Text ein weiteres Mal so benannt, unternimmt den Versuch, auf all die herzlosen, infantilen Schweinehunde und sogenannten Künstler, die die Kunst bevölkern, nicht mehr zu hören. Es war ja davor oft genug geschehen, mit diesen in sinnlose Streitereien, geführt mit einer beschämenden Brutalität der Sprache, geraten zu sein. Denn im Verlauf solcher Auseinandersetzungen hatte sie offensichtlich begriffen, dass nichts, was sie in solchen Situationen unternahm, jemals so richtig klappte, geklappt hatte. Jedoch durch Erinnerungsarbeit gelang es ihr, die vernebelnde Wand, bestehend aus Rhetorik, Betrug und Schikanierung, zu durchdringen und es folgendermaßen zu sehen: Die Beschäftigung mit der Kunst, das Kunststudium, hatte sie schließlich in diese Situation gebracht, und die Kunst muss ihr wieder heraushelfen. Die entstandenen Probleme in Auseinandersetzung mit der Kunst können nur indieser bleibend, und nicht indem man über Kunst sich äußert, bearbeitet und gegebenenfalls gelöst werden. Der Aufenthalt in diesem System, in diesem Raum, genannt Kunst, ist dann alles, was man hat, und auch wenn einem das Leben darin niemals leicht gemacht wurde und eingebettet in ewige Wiederholung niemals einfach werden wird, so ist sie doch das Einzige, worauf man vertrauen kann. Allerdings braucht man, jedes Mal, eine ganze Weile, um das herauszufinden. Erst dann lässt einen die Kraft und Dynamik der selbst erzeugten Probleme, wenigstens momentlang, abheben und schweben.
Eine Welt der Kunst
Die Künstlerin 
Die bereits vorn im Text erschienene Gestalt, die Person der Künstlerin, die irgendwie eine Erfindung und Behauptung bleibt, stellt die Möglichkeit dar, die eine Beschreibung, sich anverwandelnd in eine Erzählung, zulässt. Das Problem, dass ein Text wie dieser keine Erzählung verträgt, bleibt vom Hintergrund kommend und nach vorn drängend, erhalten. Eine solche Personifizierung wird uns nämlich, sehr wahrscheinlich, in weite, endlose Labyrinthe locken und am Ende zu nichts führen, was dem ähneln würde, was das Vorhaben dieses Textes war. Wie dem auch sei, das kennt ja ohnehin niemand.
Die Künstlerin. Diese Festlegung sollte alles ändern. Der Blick in den alten, vergilbten und unscharfen Spiegel des Mythos lässt sie ihren eigenen Blick klar erkennen. Nur dieser getrübte Spiegel lässt klar sehen. „Sie ist eine Wahnsinnige.“ hörte die Künstlerin die anderen, sie meinend, sagen. Es gibt Sätze, meist solche, die man durch einen unglücklichen Zufall über sich selbst hören musste, die sich ins Gedächtnis geprägt haben. „Finden Sie das gut?“ und „Das soll Kunst sein?“ sind nur zwei von ihnen. Jedes Mal hatte sie versucht, sich nicht aus den Augen zu lassen, sich selbst zu beobachten, wenn über Kunst auf diese Weise diskutiert wurde und sie sich zu ihrer eigenen Überraschung als Wortführerin entpuppte. Aber sie ergriff dabei niemals das Wort, sondern entwickelte mittels anderer Techniken ihre Projekte, dabei immer ausgehend von ihren Leidenschaften, von denen sie noch nicht wusste, ob sie als Idee in der Kunst überhaupt taugen würden. Das Wort überließ sie leichten Herzens der Anderen, diesem in Unschärfe verharrendem Antlitz im alten Spiegel. Dennoch behauptete sie, diese Andere, diese Spiegelschwester sei das einzig Gute gewesen, was ihr passiert sei, seit sie sich auf den Weg in die Kunst – von Mal zu Mal, von Augenblick zu Augenblick – gemacht hatte, um etwas von der Kunst, in dieser sich aufhaltend, zu erfahren. In eben solchen Augenblicken verlieh ihr die Selbstbeobachtung nicht nur die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, sondern füllte sie mit einer verführerischen Mischung aus selbstbewusster Unschuld und scheuer Abenteuerlust auf. Ein Schweigen war stets die Folge, lang und auf diffuse Weise beredt genug, um ihre im Vorfeld der Kunst imaginierten, mit Leidenschaft erträumten Vorhaben in die Kunst zu heben.
Sie kochte schon immer gern, verfertigte Kuchen, Brot und andere leckeren Sachen, wollte ein Café oder ähnliches eröffnen, und das bereits zu einer Zeit, in welcher sie noch weit entfernt von der Schwelle war, die man, um in die Kunst zu gelangen, überschreiten muss. Dieser Erinnerung begegnete sie augenblicklich in jenem Moment, in dem sich für sie der Raum der Kunst als Möglichkeitsraum geöffnet hatte. Eine Art Selbstbegeisterung überkam sie, als sie zu verstehen und zu entdecken begann, dass sie die alten Träume und Wünsche im Jetzt der ästhetischen Erfahrung mit der von ihr gesuchten Arbeit auffüllen konnte. Dennoch begleitete sie dabei ein stets bohrender Zweifel. Sie konnte nicht begreifen, was dieser diffuse Möglichkeitsraum für ihre eigenen künstlerischen Vorhaben wirklich bedeutete. Und das jedes Mal und immer wieder. Sie musste das erstmal verdauen, diesen Möglichkeitsreichtum. Dafür empfand sie in der Tat Bewunderung. Und Staunen. Etwas anstaunen ist die natürliche Art und Weise der Kunst zu begegnen, eine Kunstberührung zu wagen; so zumindest kam es ihr, regelmäßig sich wiederholend, im Lauf der Jahre vor. Sie dachte: Was bin ich nur für eine Künstlerin, bin ich überhaupt eine, was bin ich für ein Mensch, dass ich so etwas tue und Jahre lang aus Furcht vor Rechtfertigung für mich behalte? Und dann erkannte sie, das wusste und brauchte sie, ihre Chance, aus diesem Rechtfertigungsdruck, aus dieser Verantwortung, zumindest einen Moment lang, aus allem rauszukommen. So etwas musste passieren, als ob nicht auch etwas Geringeres genügt hätte, sich frei zu fühlen auf dem schwankenden Boden der Kunst, um die Realisierung ihrer Träume und Illusionen durch Arbeit in der Kunst zu vollziehen. Allerdings musste sie dafür da raus, nicht, dass sie tatsächlich gegangen wäre. Aber weg wollte sie schon, immer wieder. Und jedes Mal die Frage: Was hat das zu bedeuten? Dass sie an diese Grenze kam, die Kontrolle über sich zu verlieren. Dieses durch nichts zu verhindernde Gefühl der Überforderung zu verspüren, und dennoch sich nicht vorstellen zu können, wie das ist, wenn sie richtig außer sich geraten würde. Wie sich das anfühlen würde. Wie konnte sie bei sich bleiben und weiterhin an der Realisierung ihrer Träume arbeiten? Hatte sie denn gar keinen Sinn für den Charme eines solchen Gefühls? Die Künstlerin tat etwas Gegenteiliges: sich plötzlich umdrehen und rausgehen, aber gleichzeitig am Ort verbleiben. Und wie geht das?
Der Übergang
Die Lücke des Dazwischen
Nichtkunst als Kunst bedeutet, ein Etwas in sein Gegenteil zu verwandeln, damit es auf diesem Umweg zu sich selbst kommt. Aber wie kann man vom Nichtsein zum Sein oder von der Ruhe zur Bewegung übergehen? Das Selbe erfordert ja bekanntlich etwas Anderes als sich selbst. Was dabei entsteht ist ein Dazwischen. Wie soll man diesen Übergang oder dieses Dazwischen erfassen? Man dreht sich um und dann geht man. Das „dann“ verweist, indem es diese beiden nebeneinander gestellten Momente, die einander völlig äußerlich sind, in einer rein sukzessiven Weise festhält, auf diese Lücke des Dazwischen. Doch was geschieht zwischen beiden? Was geschieht mit dieser Lücke des Dazwischen? Man kann nicht gleichzeitig das eine und das andere machen; oder weder das eine noch das andere: man dreht sich um, dann geht man; erst verfolgt man die zwei aufeinander folgenden Bewegungen und dann kommt noch die Ruhe, ungleichzeitig und gegenteilig, des Verbleibens an diesem Ort, den es auf unmögliche Weise dadurch erst bildet, hinzu. Dieser Ort ist kein möglicher Ort, er ist als Etwas, außerhalb von Zeit und Raum, erfunden worden. Es liegt also doch am Denken, diese Sache mit der Kunst, die, wie jedem Phänomen wesenhaft zu eigen, weder Gestalt noch Ort hat, jedoch, um zu erscheinen, beides braucht.
Die Grundierung der Umwandlung
Das Aufblühen der Veränderung
Der Begriff Übergang, verstanden als Nichtort oder Niemandsland, ebenso wie die Kunst selbst, erscheint als Grenzbegriff, der auf die Spitze getrieben wurde und buchstäblich auf das verweist, was in Frage steht, aber es noch nicht ermöglicht, hier weiter zu denken und dann zu verstehen. Erst wenn man diesen Grenzbegriff weitergehend überschreitet, indem man ihn mit seinem Gegenteil verbindet, findet man den Abstand, die Distanz, den Umweg als den kürzesten Weg zu erkennen. Einerseits ist dieser zwar bequem, man kann ausweichen und an vielem auf dieser sich selbst verlängernden Wegstrecke vorbeikommen, was zur Ablenkung verführt. Andererseits ist er Langstrecke und verlangt mehr Kraft und Anstrengung, will man ankommen.
Unterschiedliches kommt am Wegesrand im Vorbeigehen zusammen, das Eine nimmt man mit, das Andere lässt man liegen. Eine experimentelle Kommunikation. Ein Auseinandergehen im Zusammenbleiben. Umwandlung – Fortdauer. Diese beiden Ausdrücke erfordern ein Drittes, da sie entgegengesetzt sind. Die Umwandlung ist der Fortdauer entgegengesetzt, die Umwandlung „verzweigt sich“ und die Fortdauer „fährt fort“ (I Ging, Das Buch der Wandlungen). Doch zugleich kennzeichnet jeder der Ausdrücke die Bedingung des anderen. Dank der Umwandlung erschöpft sich der begonnene Prozess nicht, vielmehr erneuert er sich durch sie, er kann weitergehen; und umgekehrt ist es die Kontinuität, vielmehr die Fortdauer, die es ermöglicht, gerade durch die Umwandlung zu kommunizieren und aus ihr eine Zeit des Übergangs zu machen. Kunst ist Kommunikation und Künstler sind Kommunikatoren. Aber sie ist nicht die Sichtweise des Wesens von Etwas und nicht die der Identifikation, sondern entwickelt die Sichtweise der Differenz und damit die in den Prozess der Dinge investierte Energie. Sodass es eine beständige Kommunikation zwischen der Umwandlung und der Fortdauer gibt, der begonnene Lauf nicht ins Stocken gerät, und klar werden lässt, dass die Bedeutung, gleichsam die Kunst, zwischen den Dingen als ein Drittes entsteht, sich gewissermaßen im Lauf der Dinge entwickeln lässt. Ein Durchgang, die Passage des Passierens. Im Gehen hat man sich aus sicherer Stellung, fester Boden erst ermöglicht sicheres Auftreten, heraus in die Unsicherheit gewagt. Die Beschaffenheit des solchermaßen betretenen Weges kann Passagen des Weichen und Rutschigen enthalten. Diese Voraussicht lässt uns bereits die Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins Bodenlose zu stürzen, verspüren. Angesichts des Unüberschaubaren geraten wir in den Zustand der Unsicherheit, gleichsam dem Nichtverstehen. Indes verlangt jede Festlegung einen festen Boden unter den Füßen; das Gehen setzt das Sitzen, Sich-aufrichten, Sich-auf-etwas-richten, das Stehen voraus. Wie steht jemand im Raum, welchen Standpunkt nimmt er ein? Hat er ein Ziel im Auge? Von wo aus oder wie finden wir die Balance zwischen der Bodenschwere  des Realen, der Tatsachen, der Dinge, der Werke und der Bodenlosigkeit der Kunst, des Unbedingten?
Die Antwort auf die Situation zwischen Ding und Unbedingt kann verschieden ausfallen: Bleibt man in der Situation gefangen oder löst man sie auf, indem man aus ihr austritt? Der Austritt beginnt mit dem ersten Schritt, unterwegs, im Gehen ist man dann offen und anfällig für Zwischenfälle, man geht ihnen geradezu entgegen und wünscht sich, dass etwas passiert, damit man etwas zu berichten hat. Jeder Künstler, auch der nur auf Zeit anverwandelte, ist unterwegs auf einer Art Abenteuerreise, gefährlich, weil der Ausgang ungewiss und unvorhersehbar ist. Die gemachten Werke sind der Bericht einer solchen Reise, festgestellt durch dingliche Spur; die Kunst dagegen bleibt unbedingt. Die dingliche Spur ist nahe, das Unbedingte erscheint fern. Man war zwar ganz aufs Denken eingestellt, bleibt aber auf das Sehen angewiesen. Gegenüber dem dinglichen Werk, vor dem man steht oder sitzt, und wieder gehen muss, in die Ferne, ins Ungewisse, Noch-nicht-Gewußte, ins Unbedingte. Und umgekehrt: Man war auf das Sehen eingestellt, ist aber im Jetzt des künstlerisch ästhetischen Ereignisses ohne dingliches Werk ganz auf das Denken angewiesen. Das Gehen – vorgewußt als vorauseilender Abschied – ist dann ein Weggehen-müssen. Durch erneute Betrachtung des Außen, was es ja als Ort ohne Ding gibt, kann es nach Innen getragen werden. Kunst, verstanden als unbedingte Hälfte, ist das Dritte, gleichsam ein nach Innen fahrendes Schiff im Meer der Möglichkeiten. Die Schiffsfahrt in diesem Bild, vor allem dann, wenn es sich um ein Schiff mit Motor handelt, ist, würden wir den Motor für einen Moment ausstellen, zwar unterbrochen, aber das Schiff wird getragen und fährt weiter; das Aussetzen der Motorschubkraft, die das Fahren, für einen gewissen Zeitraum, dennoch nicht stoppt, kann als Zeit des Übergangs gedacht werden. Und das heißt, dass man da, wo man hin will, während der Fahrt, nicht bleiben kann. Kunst ist ein Ort des Übergangs, von Einem zum Anderen d.h., das Eine kann den Platz seines jeweils Anderen einnehmen: ein Ort kann als Ding, und ein Ding als Ort verstanden werden. Der Ort des Übergangs im Zustand der Überforderung bildet sich auch folgendermaßen ab: da wo man müde wird, wo man nicht bleiben, nicht ausruhen kann, da wo alles flach und leer wird, sich also ein leerer Raum oder ein weites Feld öffnet, da spürt man sehr genau die feinste, noch so kleine unauffällige Berührung. Wie in der Bewegung zwischen Wachsein hin zum Schlafen. Also wenn man im Begriff ist, das Eine zugunsten des Anderen zu verlassen, im Gehen, im Übergang, ist die Aufmerksamkeit für einen gewissen Moment lang, dann wieder verschwindend, besonders hoch. Abschied und Ankommen, Anfang und Ende, Sein und Nichtsein bedingen sich und unsere Erwartungen sind in diesem Zwischenraum, in dieser Lücke des Dazwischen, niemals leer. Wir rechnen ja mit der Rückkehr von Etwas, was wir so nicht mehr wissen, was lediglich diffus und manchmal mysteriös in uns wirkt, gespürt als Mangel. Ein wirklicher Künstler ist so gesehen etwas Merkwürdiges, da ist ein Widerspruch und ein Unsinn. Sich künstlerisch zu äußern, heißt auch, nicht zu zeigen, zu verbergen, heißt zu schweigen, heißt manchmal das Zeichen eines stummen Schreis zu setzen, keiner hört ihn aber man könnte ihn sehen, wenn man es denken kann. Und was wird in der Kunst als Mangel gedacht?
Mangel und Fortdauer
Der Mangel – die Philosophen der Antike nannten ihn Eros – ist das Zentrale und Produktive. Ein Zappeln über der Leerheit, der leeren Stelle. Der Mangel repräsentiert die Wahrheit, die Dinge sind die Wirklichkeiten. Eine Wahrheit, die sich genau formulieren ließe, wäre sicherlich nichts als Lüge, wäre unwahr. Der Mangel, man weiß nicht so recht was das ist. Und das ist die Wahrheit. Eine Wahrheit, die sich formulieren, umschreiben, ausdrücken ließe, wäre so etwas wie das Ende, der Zusammensturz der (Kunst-)Welt. Woran mangelt es? Das weiß man nicht. Man fühlt im Rücken diesen eigenartigen Druck – es klappt nicht. Die Frage, ob man solchen Mangel belassen kann, ist schnell beantwortet: Man kann ihn nur belassen, denn man weiß ja gar nicht wo er ist. Rückenschmerzen kommen eben auch sehr häufig nicht vom Rücken. Alles kommt aus diesem Mangel, er ist unverfügbar. Wenn man wüßte, worin er besteht, gäbe es ihn nicht mehr. Er ist das Wesen dessen, was man in der Kunst macht. Die Natur der Kunst. Im Französischen: l’entre deux, zwischen zwei, genannt Zwischenheit oder auch Zweiheit, und bezeichnet den sich selbst auslassenden Teil des Kunstmachens. Man könnte von dem sprechen, was man nicht fassen, nicht begreifen kann. Das Unbedingte. Etwas, was jeder Form des Ausdrucks widerstrebt und widersteht, eben genau das ist ein Phänomen. Es sitzt einem im Rücken, da ist nichts zu machen. Frei nach Martin Heidegger: Das Zeug waltet noch in mir, es ist da.
Nichtkunst als der Begriff, gleichsam der Gedanke, der sich selbst verneint, sich scheinbar verloren hat, und dennoch weitergeht, indem er wieder aufkommt, in Frage kommt, die Kraft seiner Kontinuität wieder findet, indem er diskontinuierlich voranschreitet; da wo die Aussage, indem sie Platz für etwas Fehlendes schafft, aufgerufen ist, sich weiter zu verketten. Nichtkunst als Kunst.
„Erschöpfung, woraus Umwandlung, Umwandlung, woraus Fortdauer, Fortdauer, woraus Dauer.“ (I Ging, s.o.)
Bedenklich – eben als das noch zu Bedenkende – wird uns nun der vorab angebotene Blickwinkel der Differenz. Die Differenz verweist auf die Identität als sein Gegenteil und somit auf die Forderung nach Identität. Vielleicht sollten wir aufhören von Differenzen zu sprechen, sondern beginnen, damit einem Vorschlag von Francois Jullien folgend, den Begriff Abstand zu verwenden, und damit eine neue Chance aufstöbern, um unser Ungedachtes zu denken. Denn dieses lässt sich nur auf Umwegen erreichen, indem man es aus einem gewissen Abstand betrachtet. In der ästhetischen Erfahrung ist der Umweg der kürzeste Weg. Ansonsten müsste man es in den Konventionen des eigenen Denkens belassen, weil gewusst, vorher schon vorhanden, und damit bekannt. Man kann nur schräg darauf zugreifen – von der anderen Seite der durch Nichtverstehen aufgerissenen Kluft. Aber gehen wir zurück zum Kern des sinnlich Spürbaren. Dies lässt sich als solches noch stets wiederfinden. Vor Dingen, so wird gesagt, fühlen wir uns wohler. Was aber kann geschehen, wenn diese Ebene des Dinglichen sich nicht mehr vor dem Betrachter als Kunstwerk ausbreiten lässt? Dieses dann erscheinende notwendige Dritte, die Zone des Übergangs, löst auf. Sie ist das Unbestimmbare und damit das, was kein Ende hat und kein mögliches Trennereignis zulässt. Wir müssen uns umdrehen, denn der Kreis schließt sich nicht, sondern dreht sich immer wieder in sich, um sich selbst. Wahrscheinlich handelt es sich auch hier um eine verkörperte, situative ästhetische Erfahrung. Und bekanntlich kann die Not der Notlosigkeit durch das Mitdenken des Dritten gewendet werden.
Dank an die Geister, deren Werke diesen Text beatmet haben: Peter Handke, Francois Jullien, Peter Sloterdijk, Antonio Tabucchi, Milan Kundera, Boris Groys, Martin Heidegger, Platon, Aristoteles, Sokrates, Georges Steiner, Heinz von Förster, Gilles Deleuze, Michel Foucault, Jiddu Krishnamurti, Phillip Roth, J.M.D. Le Clézio, J.W.v. Goethe, Haruki Murakami, I Ging u.a.
Rolf Thiele, Jahrgang 1942; lehrte bis 2007 als Kunstprofessor an der Hochschule für Künste Bremen; lebt und arbeitet in Galan/Frankreich, dort u.a. im Kunst-Leben-Projekt „Académie Galan“. Veröffentlichungen: Rolf Thiele: Ästhetik der Überforderung, Band 1 – 4.  
(erschienen in: dilettantin produktionsbüro: No ART Around – Über die (Un)möglichkeit ein Restaurant als Kunst zu betreiben, Berlin, 2012)